Frankfurter Rundschau | 26.06.2023 | Panorama
Parks, Strände und Gemeinschaftshäuser: Immer mehr Stätten der Begegnung verschwinden aus dem Herzen Beiruts. Doch es gibt Menschen, die sich um ihren Erhalt bemühen.
Von Philippe Pernot und Frida Nsonde
Die Pflanzen des Laziza Parks in Beirut müssen dieser Tage gut mit ihrem Wasser haushalten. „Wir trauen uns kaum noch zum Gießen herzukommen, aus Sorge, jemand könnte die Polizei rufen“, sagt Samer Alhaj Ali, einer der Initiator:innen des Parks.
Anfang letzten Monats hatte die Initiative hinter dem Park im Auftrag des Grundstücksbesitzers eine polizeiliche Aufforderung erhalten, alle beweglichen Gegenstände aus dem Park zu entfernen. „Sie haben uns zwei Tage gegeben, um alles zu räumen“, sagt der 30-jährige gebürtige Syrer. Seitdem sind die Holzbänke und die kleine öffentliche Bibliothek verschwunden, die Zukunft des Parks liegt erstmal auf Eis.
Was sich in letzter Zeit zu einer Pattsituation entwickelt hat, begann vor drei Jahren, als eine Gruppe von Freunden ein verlassenes Grundstück im Herzen des Mar-Michail-Viertels wiederbelebte. „Wir hatten viel freie Zeit während der Pandemie und wollten etwas Nützliches tun“, erinnert sich Samer.
Das Gelände, auf dem nun Bäume wachsen und Blumen blühen, war ursprünglich Standort der 1831 gegründeten Laziza-Brauerei, die als die älteste Brauerei des Nahen Ostens gilt. Nachdem die Brauerei im Jahr 2017 abgerissen worden war, sollte auf dem Gelände eigentlich ein großer Gebäudeblock mit Luxus-Apartments gebaut werden. Schließlich blieb jedoch nicht viel mehr zurück als ein verlassenes Gelände, auf dem sich Müll ansammelte. Also nahmen sich die Freunde der Fläche an.
„Nachdem der Müll beseitigt war, haben wir angefangen zu pflanzen“, erinnert sich Samer. „Dann kam die Bemalung der Mauern hinzu und wir haben angefangen, kleine Workshops für die Kinder zu veranstalten, um die Nachbarschaft zu vernetzen.“
Das war zwei Monate vor der Explosion im Beiruter Hafen, die am 4. August 2020 die ganze Stadt in einen Schockzustand versetzte. Nach dem Ereignis griff die Gruppe, die sich inzwischen GRO Beirut nannte, ihrer neuen Nachbarschaft unter die Arme, wo sie nur konnte, erzählt Samer. Schließlich befindet sich der Park keine zwei Kilometer vom Hafen entfernt. „Wir haben Kisten ausgegeben mit dem Nötigsten, Lebensmitteln und Medikamenten etwa. Und wir haben bei der Reparatur von Fenstern geholfen.“
Wirtschaftskrise im Libanon: Aufgrund der Hyperinflation müssen viele Lokale schließen
Und so wie ihre Pflanzen, wuchs auch die Initiative weiter. Es kamen weitere Workshops dazu und zeitweise fanden sogar wöchentliche Dinner im Park statt, zu denen die ganze Nachbarschaft eingeladen wurde.
Doch das kam nicht bei allen Nachbar:innen gut an. „Sie haben sich von Anfang wirklich damit schwer getan, uns zu akzeptieren“, erinnert sich Samer an ihr Misstrauen. „Es ist nicht wirklich Teil unserer Mentalität hier in der Region, ehrenamtliche Arbeit zu leisten“, sagte er. Doch er kann auch Verständnis dafür aufbringen. „Die meisten Menschen im Libanon müssen bereits einen oder zwei Jobs annehmen, um über die Runden zu kommen. Es steht also nicht gerade oben auf der Agenda, etwas umsonst zu tun.“
Ein Umstand, auf den sich besonders die aktuelle Krise im Land auswirken dürfte. Laut Weltbank befindet sich der Libanon seit 2019 in einer der schlimmsten Wirtschaftskrisen weltweit. Seitdem hat die libanesische Lira mehr als 98 Prozent ihres Wertes verloren und die Inflation schießt stetig in die Höhe. Nach Angaben des UNRWA leben 82 Prozent der Libanes:innen in Armut. In dem Kontext der Hyperinflation müssen viele Orte schließen, wenn sie ihre Kosten nicht mehr decken können – oder weil andere Aktivitäten für ihre Eigentümer lukrativer geworden sind.
Die jüngste Intervention kam jedoch trotz aller vorherigen Komplikationen überraschend für GRO Beirut. „Zuerst dachten wir, der Besitzer hätte andere Pläne für das Grundstück, aber schließlich haben wir erfahren, dass sich einige Nachbarn bei ihm beschwert hatten“, sagt Samer. „Wegen des Lärms von spielenden Kindern und über das Aufhalten von Menschen spätabends im Park. Wahrscheinlich wollte er einfach nicht weiter belästigt werden.“
Seitdem scheint sich ein Schleier der Resignation auf den Park gelegt zu haben. „Gerade versuchen wir einfach, mit dem Eigentümer in Kontakt zu kommen, um herauszufinden, was er genau vorhat“, fasst Samer die Situation zusammen. „Wenn er hieraus einen Parkplatz machen will, können wir zumindest die Bäume ausgraben und woanders hinpflanzen.“
Grünflächen sind in der libanesischen Hauptstadt eine Seltenheit. Obwohl die Weltgesundheitsorganisation neun Quadratmeter Grünfläche pro Einwohner:in empfiehlt, kommt auf einen Menschen in Beirut nicht einmal einer.
„Die Mehrheit unserer Gesellschaft betrachtet Land nicht wirklich als etwas von sozialem Wert. Die meisten sind davon überzeugt, dass Land eine Ware ist. Dass es in erster Linie dazu da ist, Gewinne zu erzielen.“Tala Alaeddine
Viele gemeinnützige Initiativen hingegen sind gerade auch durch die Belastung der Wirtschaftskrise gezwungen, zu schließen oder zumindest Abstriche zu machen, da es an Ressourcen und Finanzierung mangelt. Einige greifen, wie Laziza Park, auf Vereinbarungen und Kompromisse mit Eigentümer:innen von Privatgrundstücken zurück, bis letztere eigene Nutzungsansprüche geltend machen. Wenn es denn soweit kommt. In der Regel unterbinden Eigentümer:innen von Beginn an eine alternative Zwischennutzung ihres Grundstücks und auch von staatlicher Seite mangelt es an Unterstützung.
Ein gesellschaftliches Problem, sagt Tala Alaeddine, Forschungskoordinatorin des urbanen Forschungsstudios „public works studio“ in Beirut. „Die Mehrheit unserer Gesellschaft betrachtet Land nicht wirklich als etwas von sozialem Wert“, sagt sie. „Die meisten sind davon überzeugt, dass Land eine Ware ist. Dass es in erster Linie dazu da ist, Gewinne zu erzielen.“
Diese Sichtweise wurde zunehmend während der Wiederaufbauphase nach dem libanesischen Bürgerkrieg (1975-1990) vorangetrieben. Ziel war es damals, Beirut zur nächsten Finanzmetropole der Region zu machen. Um das zu erreichen, gab die Regierung unter Premierminister Rafik Hariri ihr Bestes, Investitionen im Immobiliensektor anzuziehen.

Es entstand ein wirtschaftliches Modell, das produzierende Wirtschaftszweige an den Rand drängte und in der Folge arbeitslose Jugendliche zum Auswandern zwang. Eine Konsequenz, die allerdings nicht zum Umsteuern anregte, schließlich schickte die neue Diaspora wiederum Geld nach Hause, ausländisches Kapital, auf das das System angewiesen war. Zudem wurde dieses letzten Endes nicht selten in Immobilien investiert, was den Kreislauf vorantrieb.
Ein prominentes Beispiel für die bauliche Leitvision aus der unmittelbaren Nachkriegszeit ist der Wiederaufbau der Beiruter Innenstadt. Unter Hariri wurde 1994 die Immobiliengesellschaft Solidere eigens für das Projekt gegründet, das die Zerstörung jahrhundertealter Straßen und Häuser und die Vertreibung der Bewohner:innen mit sich brachte.
„Vor dem Krieg war die Innenstadt ein Ort für alle“, erzählt Alaeddine. „Es gab eine Vielzahl von verschiedenen Märkten und Einkaufsmöglichkeiten für den täglichen Bedarf – ein Ort des Zusammenkommens.“ Heute steht an dieser Stelle ein edler Einkaufskomplex, in dem nur noch die reichsten Libanes:innen und Reisende aus den Golfstaaten shoppen.
Privatisierung im Libanon: Immer weniger kostenlose Orte der Begegnung
Im Zuge der großangelegten Privatisierung der letzten Jahrzehnte wurde auch der Schutz des privaten Eigentums zunehmend gesichert. Im Gegensatz zum öffentlichen Raum, der wiederum privatisiert werden konnte. „Privatgrundstücke gelten gemeinhin als heilig und somit unantastbar“, sagt Tala Alaeddine.
Auch die Gesetzeslage spiegelt diese Lage wider. Die letzten Jahrzehnte zeichnen hier ein Bild von Deregulierung, Widersprüchen und Bauförderung, welche etwa in den Jahren 1962, 1981, 2008 und 2019 festgeschrieben wurden.
Und da, wo ein Vorhaben im Widerspruch mit der gesetzlichen Grundlage steht, wird das Gesetz kurzerhand umgangen. „Die Mehrheit der Entscheidungen, die (allein) in den letzten drei Jahren von der Generaldirektion für Stadtplanung und seinem Obersten Rat getroffen wurden, beruhen tatsächlich auf Ausnahmen von den Masterplänen und Gesetzen“, sagt Alaeddine. Bei den Entscheidungen, die Parlament oder Regierung treffen, sehe es auch nicht anders aus. „Viele Politiker:innen sind entweder selbst im Immobiliengeschäft oder sind zumindest gut mit ihm vernetzt“, erklärt sie. „Deshalb gibt es auch viel Korruption, wann immer es um Flächennutzung und Bauwesen geht.“
Stattdessen, so Alaeddine, behaupten Politiker:innen, „dass wir, die Anwohner:innen, nicht wüssten, wie man öffentliche Räume nutzt.“ Angeblich aus Sorge vor Verschmutzung und Vermüllung gebe es des Öfteren Versuche, den Zugang zu ihnen zu beschränken.
„Im alten Beirut gab es zwischen den Häusern Gassen, Treppen und Freiflächen, auf denen sich die Nachbarschaft im Alltag begegnet ist.“Tala Alaeddine
Ein Spielball dieser Dynamik ist immer wieder Horsh Beirut, die größte Grünanlage der Stadt. Nachdem der Stadtpark für rund 25 Jahre gänzlich geschlossen war, ist er nach einer erfolgreichen Bürgerinitiative seit 2015 wieder frei zugänglich – zumindest bis jetzt, sagt die Stadtforscherin. „Vor kurzem hat ein Abgeordneter aus Beirut einen Gesetzesentwurf eingebracht, der den Zugang zum Park kostenpflichtig machen sowie bestimmte Aktivitäten wie Picknicks verbieten sollte“, sagt Tala Alaeddine.
Die tatsächlich verabschiedete Fassung sei letzten Endes abgeschwächt gewesen, aber das Muster dahinter sei klar erkennbar, meint sie. „Es wird versucht, bestimmte Teile der Bevölkerung aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen.“ Das treffe ihrer Ansicht nach vor allem Randgruppen wie syrische Geflüchtete, die, so beobachte sie, mittlerweile bereits an den Toren abgewiesen würden. Eine Auswirkung des sich verschärfenden öffentlichen Diskurses.
Dazu kommt, dass selbst die kleinen Orte der Begegnung immer seltener werden. Jene Orte, die Tala Alaeddine „halb-öffentlich“ nennt. „Im alten Beirut gab es zwischen den Häusern Gassen, Treppen und Freiflächen, auf denen sich die Nachbarschaft im Alltag begegnet ist.“ In den baulichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte gehe dies vermehrt verloren.
Heute trennen Autobahnen und Straßen Stadtteile voneinander oder durchschneiden gar ganze Orte, die einst miteinander verbunden waren. Wo sich früher die Wege wie die Gassen kreuzten, ragen heute mehrstöckige Neubauten in den Himmel. „Es gibt keine Interaktion mehr“, findet Alaeddine.
Im Herzen Beiruts, inmitten von alten, verfallenden Häusern und Wolkenkratzern, steht eine alte Villa mit blätternder Fassade, die von Pflanzen umgeben ist. „Mansion“ ist einer der Orte in der Stadt, der aktiv zu Begegnung und Mitgestaltung anregen will. Als gemeinnütziger Treffpunkt öffnet die dreistöckige Villa in Zokak el-Blat ihre Türen für alle, die für einen Kaffee, gratis WLAN oder ein Gespräch vorbeikommen möchten.
Alles begann im Jahr 2012, als es einer Gruppe von Menschen gelang, mit dem Eigentümer eine Vereinbarung zu treffen, die der zuvor verlassenen Villa wieder Leben einhauchte. Seitdem werden Küche und die meisten Räume gemeinsam genutzt, während in den oberen Stockwerken Künstler:innen und Forschende ihren Platz gefunden haben.
„Orte wie dieser sind für Kreative wie mich und neue Initiativen sehr wichtig, vor allem als Startpunkt“, sagt Dahlia Barakat, eine junge Künstlerin, die derzeit in der Villa eine Kunstresidenz gefunden hat. „Es wird immer schwieriger, diese Orte zu erhalten, da wir durch die Krise viele von ihnen verlieren.“

Platz für alle in Beirut: Nicht nur junge Kreative brauchen öffentliche Räume
Mansion ist wie Laziza-Park von der Gunst des Eigentümers abhängig. In diesem Fall hat er aus dem Rest seines Grundstücks in der Vergangenheit bereits einen Parkplatz gemacht, der die alte Villa nun umgibt. Ein Ausblick, der auch die Zukunftsperspektive des Kulturzentrums überschattet. In den letzten Monaten hat es immer wieder Gerüchte über die bevorstehende Schließung der Villa gegeben.
„Wir verhandeln derzeit mit dem Eigentümer über neue Bedingungen für die Nutzung des Raums. Unser Ziel ist es, den Ort gemeinnützig zu halten“, sagt Alaeddine dazu. Sie selbst ist nicht nur Forscherin des Public Works Studio, sondern auch Mitglied der Mansion-Iniative.
Für sie ist einer der Hauptgründe, warum Orte wie Mansion und Laziza Park in Beirut so selten sind, auch ein politischer. „Die Politiker:innen haben schlichtweg Angst vor öffentlichen Räumen“, sagt sie. „Die Menschen könnten durch die Begegnung ihre Differenzen überwinden und sich zusammenschließen, um sich gegen sie zu wenden.“
Tatsächlich wurde Beiruts Stadtbild jüngst Schauplatz solchen Widerstandes. Während der Aufstände 2019, die als „Thawra“ (zu Deutsch: Revolution) bekannt sind, besetzten Tausende den Märtyrerplatz, die Ringautobahn und andere ikonische Orte in Beirut. Dahlia Barakat war Teil dieser Bewegung. „Während der Revolution waren alle auf der Straße. Wir kamen zusammen und sprachen über Dinge an Ort und Stelle“, erinnert sie sich.
Für sie hat die Bedeutung von Gemeinschaftsräumen seither sogar noch zugenommen. „Es fühlt sich an, als hätte man uns die Straßen genommen“, sagt die Künstlerin mit Blick auf die Geschehnisse. „Jetzt herrscht eine große Angst gegenüber der Straße. Denn die Revolution war sehr herzzerreißend“, fügt sie mit Blick auf das Trauma hinzu, das von dem ausgebrannten revolutionären Aufstand zurückbleibt.
„Deshalb sind solche geschützten Orte wie Mansion so wichtig. Wenigstens hier können wir ins Gespräch kommen, neu denken und versuchen, etwas zu schaffen – gemeinsam.“